Kurventechnik






Das Kurvenfahren und die damit verbundene Schräglage machen einen Großteil der Faszination Motorrad aus. Tolle Kurven mit viel Schräglage fahren - das will freilich jeder können. Wer seine Fahrkünste verbessern will, sollte auch die Fahrphysik verstehen, die einer gelungenen Kurvenfahrt zu Grunde liegt. Wichtig ist hier die Fliehkraft. Sie hängt vom Kurvenradius und der gefahrenen Geschwindigkeit ab. Außerdem wirkt natürlich die Erdanziehungskraft auf den Fahrer und das Motorrad ein. Die Fliehkraft wirkt waagrecht zur Kurvenaußenseite, die Schwerkraft senkrecht nach unten. Daraus ergibt sich eine resultierende Kraft. Die gemeinsame Masse von Fahrer und Motorrad, in deren Schwerpunkt sowohl die Fliehkraft als auch die Gewichtskraft angreifen, hebt sich bei der Berechnung der Resultierenden auf. Das bedeutet, dass die erforderliche Schräglage unabhängig vom Gewicht von Maschine samt Pilot ist. Einfluss auf die Schräglage haben die Reifenbreite und der Schwerpunkt. Heißt: je niedriger der Schwerpunkt und je breiter die Reifen, desto stärker muss das Motorrad in die Kurve gelegt werden.
Ein Sportmotorrad mit breiten Reifen muss daher stärker in die Kurve gelegt werden als ein gewöhnliches Motorrad mit schmalen Reifen. Andererseits lässt sich mit einem Tourenmotorrad meist nicht eine so extreme Schräglage wie mit einem Sportmotorrad erreichen, denn ein Tourer setzt in Schräglage früher auf und die Reifen haben eine geringere Haftung.
Kurven richtig fahren und trainieren klappt am besten nach dem Drei-Phasen-Prinzip von Professor Hans Eberspächer.
Phase eins: Der Blick leitet die Kurve ein, indem er sich durch entsprechende Kopfbewegungen vom Vorderrad aus zum Kurvenausgang richtet, also dorthin, wo man hinfahren will.
Phase zwei: Das kurveninnere Knie schiebt sich leicht nach vorne (etwa zwei Zentimeter). Das führt zu einer leichten Gewichtsverlagerung in die Kurve, wenn auch die kurveninnere Schulter praktisch nach unten fällt.
Phase drei: In der Kurve den Po entspannen und den Lenker locker halten. Nur so nimmt man alle Bewegungen des Motorrads wahr, was im Falle eine schnelle Reaktion erlaubt. Für eine Rechtskurve gilt also: rechts schauen, rechts gegen den Lenker drücken, rechtes Knie vorschieben, analog für die Linkskurve. Wie Professor Bernt Spiegel erklärt, sieht die Natur Schräglagen von über 20 Grad nicht vor, weder bei Mensch noch Tier. Kein Wunder also, dass unerfahrene Motorradfahrer kaum über diese Marke hinauskommen. Beim Training ist es deshalb besonders wichtig, dass geschätzte und tatsächliche gefahrene Schräglage übereinstimmen. Viele Motorradfahrer nutzen ihre Schräglagenreserven nicht, wenn eine Kurve im Radius doch enger ist als zunächst angenommen oder wenn es sich um eine so genannte Hundskurve handelt, die zum Ende hin ihren Radius verringert. Hat der Fahrer nämlich subjektiv das Gefühl, an der Schräglagengrenze des Motorrads angekommen zu sein (nichts geht mehr), legt er sich logischerweise nicht weiter in die Kurve, auch wenn es objektiv noch möglich wäre. Vielmehr fährt er auf seinem zu großen Kurvenradius weiter und kommt unter Umständen von der Straße ab, oder er bremst und stürzt. Auch das andere Extrem ist möglich: Der Fahrer glaubt, er sei noch relativ aufrecht, vergrößert bedenkenlos seine Schräglage, obwohl das Motorrad gar keine Reserven mehr hat, und stürzt. Die Frage lautet: Wie schräg bin ich objektiv und wie schräg fühle ich mich subjektiv? Mit der Übung Kreisbahn fahren lässt sich das herausfinden. Das Training sollte allerdings nicht dazu führen, dass man dann in jeder Kurve bis ans Limit geht. Aber wer weiß, was bei seiner Maschine wann aufsetzt und wie sich das anfühlt und klingt, der fährt in allen Fällen besser, denn er kennt seine Sicherheitsreserven und kann sie im Notfall nutzen. Als Trainingsgelände dient ein großer, gut asphaltierter Platz, möglichst ohne Fahrbahnmarkierungen. Der Kreisdurchmesser sollte mindestens 20 Meter betragen. Wichtig: Nur die Innenbegrenzung markieren, nach außen möglichst viel Platz für den imaginären Sturzraum lassen. Durch einen Kreidestrich quer über Vorder- und Hinterreifen erhält man eine grobe Einschätzung der gefahrenen Schräglage.

Trainingsablauf Kreisbahn fahren.
Blick: Weit in die Kreisbahn, etwa ein Drittel bis Hälfte des Kreises voraus. Kopf senkrecht halten.
Sitz: Keine Spannung in den Armen, Hände nur locker auf die Lenkerenden auflegen. Schultern fallen lassen, Po entspannen, Füße mit den Ballen auf die Rasten.
Bedienung: Mit konstanter Last, also gleich bleibender Gasgriffstellung fahren, eher niedertourig, also in einem relativ hohen Gang. Möglichst nicht bremsen; falls es doch nötig ist, Maschine vorher aufrichten, also von der Schräglage in die Geradeausfahrt. Jetzt kommt wieder der Lenkimpuls ins Spiel. Die kurveninnere Hand bestimmt per Druck am Lenker den Kurvenradius: mehr Druck - der Radius wird kleiner; weniger Druck - das Motorrad richtet sich auf und will geradeaus fahren. Nach einigen Runden rechts- und linksherum dürfte jeder seine Schokoladenseite entdeckt haben. Dabei die Schräglage nur langsam steigern, denn die Reifen brauchen eine gewisse Betriebstemperatur, um den notwendigen Grip aufzubauen. Selbst die weichste Gummimischung hat wenig Haftung, wenn es an Temperatur mangelt. Bevor man dann wieder vom Motorrad steigt, sollte man sich bewusst die Frage stellen: "Wie viel vom Kreidestrich ist noch übrig?" Erst dann einen Blick auf die Reifen werfen. Nur so lässt sich die Selbsteinschätzung überprüfen. Ist vom Kreidestrich nichts mehr übrig, wurde bereits nahezu im Grenzbereich gefahren, die Reserven sind gering: Ist ein Teil des Strichs auf der Reifenflanke noch sichtbar, bietet zumindest der Reifen noch Reserven. Natürlich handelt es sich dabei nur um eine grobe Schätzung.
Im Anschluss bietet es sich an, verschiedene Kurvenstile auszuprobieren und zu trainieren.
Legen: Fahrer und Maschine in gleicher Schräglage. Das kurveninnere Knie etwa zwei Zentimeter in Fahrtrichtung vorschieben (nicht nach innen abspreizen), locker sitzen, Blick voraus. Legen sollte der bevorzugte Kurvenstil sein. Der Fahrer sitzt ganz normal auf dem Motorrad, die Maschine setzt bei flotter Kurvenfahrt nicht früher auf als nötig. Je mehr der Fahrer sein Körpergewicht zur Kurveninnenseite neigt, also mit in Schräglage geht, desto aufrechter kann das Motorrad durch die Kurve gefahren werden (geringere Schräglage erforderlich).

Drücken: aufrecht sitzen bleiben und nur die Maschine mit dem kurvenäußeren Knie in  Schräglage drücken. Die Maschine braucht mehr Schräglage als beim Legen. Das Drücken eignet sich für schnelle Richtungswechsel (Ausweichen, Slalom), denn es geht schneller, nur die Maschine in Schräglage zu bringen, als auch noch zusätzlich das eigene Körpergewicht. Bei sehr engen Passkehren und beim Wenden, wenn also die Fliehkraft minimal ist, lassen sich durch das Drücken der Maschine enge Radien fahren. Zudem hat der Fahrer durch seine aufrechte Sitzposition beim Drücken einen günstigeren Blickwinkel. Wichtig: Den Kurvenstil "Drücken" nicht mit der Lenktechnik "Drücken am Lenker" verwechseln.

Hanging off: Der Fahrer hängt seitlich fast neben dem Motorrad, kurveninneres Knie weit abgespreizt, Bodenkontakt ist möglich. Der Rennstreckenstil bringt auf normaler Strecke nichts. Im Gegenteil: Bessere Reaktionsmöglichkeiten und ein besserer Überblick ergeben sich beim Legen und Drücken, denn der Fahrer ist dann enger mit der Maschine verbunden und kann schneller und zielgerichteter agieren. Weil Rennfahrer immer in der gleichen Richtung (und ohne Gegenverkehr) auf bekannten Kursen unterwegs sind, müssen sie in der Regel nicht plötzliche Brems- oder Ausweichmanöver absolvieren. Deshalb ist die Bindung an die Maschine via Knieschluss und der Blick in die Kurven, der beim Hanging off schlechter wird, für sie nicht so wichtig. Dafür bekommen Rennfahrer eine deutliche Rückmeldung über den Grad der Schräglage durch das aufsetzende Knie, außerdem hat die Maschine selbst beim Hanging off weniger Schräglage.